Eine der schönsten Landschaften Deutschlands liegt direkt vor unserer Haustür, noch dazu erschlossen durch einen Premiumwanderweg. Die Rede ist vom UNESCO-Weltkulturerbe Mittelrheintal und dem Rheinsteig. Letzte Woche bin ich die Etappe von Rüdesheim nach Lorch gelaufen. Es kostete etwas Überwindung, im dichten Nebel mit der Aussicht auf keine Aussicht die Taunushöhe zu erklettern. Nachdem sich dann aber die Sonne doch noch durchgesetzt hat, war alles vergessen. Alleine die deutsche Bahn versuchte die Freude am Tag zu schmälern.
Morgens um sechs ist der Himmel klar, am Horizont im Osten ist schon ein sanftes rötliches Leuchten sichtbar. So gegen halb acht, ich bereite gerade meinen Aufbruch vor, schiebt sich von Südosten eine massive Wolkenwand vor. Der Wetterbericht hatte einen sonnigen Tag vorausgesagt. Jetzt doch nicht?
Ich bin heute öffentlich unterwegs. Dank der gesperrten und mittlerweile gesprengten Autobahnbrücke über dem Salzbachtal kann der Wiesbadener Hauptbahnhof zur Zeit nicht von Zügen angefahren werden. Nur die Strecke nach Niedernhausen und die ICE-Spange nach Norden sind freigegeben, da diese bereits vor der Brücke nach Osten abbiegen. Für nahezu alle Verbindungen muss man erst mit Bussen - Linienbusse und Schienenersatzverkehr - aus der Stadt raus und dann auf die Züge umsteigen.
Ich fahre daher zunächst mit einem Linienbus zum Biebricher Bahnhof. Als sporadischer ÖPNV-Nutzer in Wiesbaden - ich laufe lieber oder nehme das Fahrrad, als mich in überfüllte und unbequeme Busse zu quetschen - bin ich überrascht, wie schnell ich mit dem Bus in Biebrich bin. Der Zug, die VIA nach Neuwied über Koblenz und rechtsrheinisch am Mittelrhein entlang, hat 15 Minuten Verspätung, meldet die Ansage. Trotzdem ist der Zug pünktlich da, oder ist es der verspätete vorherige Zug?
Egal, ich sitze im Warmen und der Zug fährt. In Östrich-Winkel bleibt er jedoch stehen und fährt nicht weiter. Der Pilot erzählt, dass er einen Schaden an einem Rad vermutet, und sucht nach dem Fehler. Dann informiert er, dass er noch auf die Freigabe wartet, der Zug aber in jedem Fall weiterfahren wird. Nach dreißig Minuten macht er das auch, so dass ich gegen halb zehn in Rüdesheim bin. Für mich weniger stressig als für die vielen jungen Männer (ich konnte keine Frau unter ihnen identifizieren), die in Geisenheim aussteigen und vermutlich zu spät zu ihrer Vorlesung an der Hochschule für Weinbau kommen.
Rüdesheim. Der Bahnhof liegt am Stadtrand, von hier aus bin ich schnell in den Weinbergen. Aber das Wetter! Es ist mehr als trüb, es ist neblig, sehr neblig. Keine weite Sicht, kein Licht zum Filmen und Fotografierne. Oh weh. Lohnt sich das überhaupt?
Jetzt bin ich aber hier, also nutze ich den Tag, egal, wie das Wetter ist. Und besser kann es immer noch werden. Ich wähle zunächst die kürzeste Strecke hoch zum Niederwalddenkmal. Von dort aus will ich dem Rheinsteig weiter bis Lorch folgen, das sind gute 24 Kilometer Wegstrecke.
Die Wege sind mir vertraut, ich bin hier schon oft gewesen. Nach einer halben Stunde steil bergan habe ich das Rebenhaus erreicht, ein Lokal am Fuße des Niederwalds. Seit 1. November hat es nur an Wochenenden geöffnet, da sich wochentags nur noch wenige Leute hierhin verirren. Der Blick von der Terrasse bei schönem Wetter ist einfach phantastisch, auf den Rhein und rüber nach Rheinhessen, auf die Nahemündung und ins Nahetal, und auf den Donnersberg in der Pfalz. Heute natürlich nicht.
Oberhalb des Rebenhauses steht der runde offene Tempel, ein Eyecatcher. Hier haben wir vor fünfzehn Jahren schon für unser Projekt einfallsreich.tv Filmaufnahmen gemacht, für ein Internetvideoformat zum Thema Sport und Fitness unter dem Titel "Trainer 2.0", das seiner Zeit leider voraus war und für das es noch keine Plattform gab. Facebook war noch in den Kinderschuhen,Youtube ebenfalls.
Hinter den Nebelschwaden kann ich schon die Sonne erahnen, das lässt mich hoffen, dass sie sich doch noch durchsetzt. Das Niederwalddenkmal ist sogar aus der Nähe nur schemenhaft zu erkennen. Der riesige Klotz steht hier als sogenannte "Wacht am Rhein" unnütz in der Gegend herum und starrt - auf die anderere Rheinseite, also nach Frankreich? Nein, sagen die Interpretatoren, denn der Rhein war zur Zeit der Errichtung schon nicht mehr Grenzfluss, deshalb schaue Germania an der Spitze nicht zum vermeintlichen Feind Frankreich, sondern "die Deutschen" an, um ihnen das "geeinte Vaterland" zu zeigen.
Ganz oben also, übergroß, die Germania, Personifizierung Deutschlands, dessen Vereinigung mit dem Denkmal gewürdigt werden sollte (die Vereinigung zum Kaiserreich, nicht die Wiedervereinigung nach dem Mauerfall). Der Adler, ihr zu Füßen, darf natürlich auch nicht fehlen.
Darunter ein Bronzerelief mit Figuren in Lebensgröße, Männer (Männer, keine Frauen, wohlgemerkt), die seinerzeit Rang und Namen hatten: Kaiser Wilhelm, Bismark, Moltke, adlige Herrscher, Militärs - alle mit ihren Rauschebärten, Pickelhauben, Uniformen.
Links und rechts die Allegorien: links der Krieg mit Trompete im Mund und Schwert in der Hand, rechts der Frieden, dargestellt als Engel mit Ölzweig und Füllhorn.
Unten im Zentrum Vater Rhein und Tochter Mosel: der Rhein übergibt der Mosel das Wächterhorn, da die Mosel jetzt Grenzfluß zu Frankreich war.
Auf der Frontseite ist zudem das Gedicht "Die Wacht am Rhein" eingraviert, ein pathetischer und nationalistischer Text, der hoffentlich diejenigen, die ihn lesen, das dürfte ein Minderheit der vielen Besuchenden sein, mehr als irritiert. Beschreibungen des Niederwalddenkmals, Ausführungen zur Entstehnungsgeschichte, Rezeption und Interpretation gibt es reichlich an anderer Stelle.
Während ich dieses fast vierzig Meter hohe Monstrum anstarre, klart der Himmel auf, das eben noch umwölkte Denkmal ist jetzt von der Sonne bestrahlt, als wolle es meinen kritischen Blick verhöhnen. Aber noch ist der Blick nicht frei, wenn auch die Wolken allmählich dünner werden und der Himmel weiter oben schon blau durchschimmert.
Durch den Niederwald führt mich der Weg westlich weiter, zwischen den Bäumen lugt immer öfter die Sonne hervor. Am Naheblick kann ich erstmals auf den Fluss im Tal hinabsehen, immer noch sind schwere Wolken da unten unterwegs. Exponiert am Hang steht die Ruine Rossel. Wie alles hier oben ist es kein echtes Überbleibsel, sondern eine im Zeitalter der Rheinromantik künstlich angelegte Ruine, die zur großen Parkanlage des Jagdschlosses Niederwald gehörte.
Die Aussicht ist großartig, wenn keine Wolken davor sind. So erhasche ich auch von hier Blicke auf den Rhein, aber nicht auf die Nahe und nach Rheinhessen. Zu erkennen sind die (echte) Ruine Ehrenfels und der auf einer Rheininsel stehende Binger Mäuseturm, ein ehemaliger Zollposten. Oberhalb des dichten Wolkenverbundes ist ein Stück des Soonwalds zu sehen und einiger Windräder, die sich da oben drehen.
Ich bin hier oberhalb der berühmten Engstelle des Rheins, des Übergangs von Rheingau zum Mittelrhein: das Binger Loch. Seit die Technik es zulässt, wurde hier gesprengt und gegraben, um die Passage für die Schifffahrt zu vergrößern. Sprengungen im 17. Jahrhundert zur Vergrößerung der Durchfahrt führten bereits zur drastischen Absenkung des Wasserspiegels bis nach Mainz, was auf Dauer dazu führte, dass das ursprünglich hölzenere Fundament des Mainzer Doms aufwändig erneuert werden musste. Die meisten der ursrpünglich 32 Rheininseln im Rheingau verlandeten, Wasserburgen standen auf dem Trockenen.
Die letzte große Erweiterung auf 120 Meter Durchfahrtsbreite fand Anfang der 1970er Jahre statt. Noch vor wenigen Jahrzehnten wurden Schiffe von Lotsen durch das Binger Loch navigiert, wie an anderen Engstelle, etwa der Loreley, auch.
Vom Rossel sind es nur wenige Schritte bis zum nächsten Aussichtspunkt, dem Rittersaal, eine ummauerte Plattform, von der aus man rheinaufwärts ins Mittelrheintal schauen kann. Wenn nicht gerade, so wie jetzt, die dichten Wolken die Sicht behindern. Also geht es weiter. Vorbei an der Zauberhöhle, eine künstlich angelegte Höhle, die kleinen und großen Kindern besonderen Spaß bereitet, zum Jagdschloss Niederwald, einem Hotel-Restaurant. Hinter dem Schloss führt der Weg erst leicht, dann steil bergab. Nachdem sich oben auf dem Berg mittlerweile die Sonne durchgesetzt hat, bin ich jetzt auf der Nordseite wieder im Schatten unterwegs. Der Sessellift runter nach Assmannshausen ist schon im Winterschlaf.
In Assmannshausen geht es kurz durch den Ort und über einen schmalen Fußweg vorbei an kleinen Häusern den gegenüberliegenden Hang hinauf. Der schmale Pfad mündet auf einen geteerten Wirtschaftsweg. Ich bin jetzt in den Weinbergen, und zwar in der Lage Assmannshäuser Höllenberg. Assmannshausen liegt unter mir, vor mir der Rhein und das gegenüber liegende Schweizer Haus, ein hoch im linksrheinischen Hang liegender Hof mit Biergarten, weiter rechts die Burg Rheinstein, ebenfalls hoch im Hang gelegen. An der Kante des Höllenbergs biegt mein Weg nach rechts ab und der Blick über den Rhein reicht jetzt bis nach Lorch.
Das Rheintal ist nicht nur ein wichtiger Wasserweg. Tag und Nacht, sieben Tage die Woche fahren große und sehr große Binnenschiffe rheinauf- und rheinabwärts. An beiden Ufern führen Bundesstraßen und stark frequentierte Bahnstrecken entlang. Der Lärmpegel ist mitunter unerträglich. Seit Jahren fordern Anwohner Maßnahmen zur Minderung des Bahnlärms. Vor der Eröffnung der ICE-Strecke von Köln nach Frankfurt war die linksrheinische Bahnlinie die wichtigste Nord-Südachse des Bahnverkehrs. Aber neben den Personenzügen nutzen zahllose Güterzüge die Passage.
Am linken Ufer knickt der Rhein bei Trechtingshausen nach Westen ab, auf dem Schwemmland davor liegt der große Campingplatz. Vor Trechtingshausen fließt der Morgenbach in den Rhein. Das tiefe und zu Beginn canyonartige Tal ist wunderschön. Am Taleingang liegt die große Burg Reichenstein, hoch über dem Tal werden die Felsen vom Deutschen Alpenverein zum Klettern genutzt. Der Weg durch das Morgenbachtal ist sowohl Teil des Rheinburgenweges, des linksrheinischen Pendants zum Rheinsteig, als auch des Soonwaldsteigs, der in mehreren Etappen weit auf die Hunsrückhöhen führt.
Ich muss jetzt auf die Wegmarkierung achten, denn der Rheinsteig folgt nicht einfach dem Wirtschaftsweg, sondern windet sich über ein paar Serpentinen auf eine höhere Ebene im Hang. Wegen des intensiven Weinbaus ist das Wegenetz an dieser Stelle sehr dicht.
Wie eine chinesische Pagode leuchtet das bronzene Dach der Rotweinlaube, an der ich jetzt vorbei komme. Darin sitzt eine ältere Frau beim Kaffee. Sie kommt wie ich aus Wiesbaden, wie wir feststellen, und ist froh, den Tag, der jetzt klar und sonnig ist, als wäre nie eine Nebelwolke aus dem Rhein aufgestiegen, für den Ausflug hierher zu nutzen.
Etwas weiter nördlich endet der breite Weg und der spannendste Abschnitt dieser Rheinsteigetappe beginnt. Ein schmaler Pfad, eng am Hang, über große Steine und vorbei an massiven Felsen. Erst geht es ein Stück bergab, Trittsicherheit ist erforderlich, dann durch ein Wildgatter hindurch. Dahinter steigt der Weg sanft, aber stetig an, der Hang ist nicht mehr ganz so steil und dicht bewaldet. Nach einiger Zeit taucht zum Rhein hin eine Felsengruppe auf, eine Art Klippe, hier an den Flüssen Ley genannt, der Teufelskadrich. Von hier aus ist die Aussicht auf den Fluss grandios.
Etwas später biegt der Pfad vom Rhein weg ins Seitental des Speisbach und mündet in einen breiten Wanderweg, der den nächsten Hang entlang zurück Richtung Fluss führt. Aber da der Weg immer noch im Wald verläuft, ist vom Fluss zumindest in dieser Jahreszeit noch wenig zu sehen. Nur an den Aussichtspunkten wie dem Rastplatz Paul-Claus-Hütte ist der Blick in die Ferne möglich.
Das nächste Tal führt den Weg wieder weg vom Rhein. Das Bodental erfordert einen riesigen Umweg, den man, wie so oft am Rhein, vorher nicht erahnt. Alles sieht so nah aus, aber in Wahrheit ist die Wegstrecke des Rheinsteigs, wie die des Rheinburgenwegs, wesentlich länger als der Verlauf des Flusses weiter unten. Entweder steigt er in den Tälern vorne ab und hinten wieder auf, oder er folgt auf bleibender Höhe den Talverläufen in größeren Radien.
Im Bodental befindet sich ein großer Campingplatz, der zwischen den Bäumen kaum zu erkennen ist. Von der Bundesstraße 42, die am rechten Rheinufer entlang verläuft, führt eine Stichstraße unter der Eisenbahn durch ins Tal und zu dem Campingplatz. Wohnwagen und Wohnmobile passen jedoch nicht durch die Unterführung und müssen im einige Kilometer nördlich gelegenen Lorch abbiegen und über einen geteerten Wirtschaftsweg parallel zur Straße zum Campingplatz fahren.
Der Rheinsteig verläuft viel weiter oben, dort, wo sich der Wald hin zurückgezogen hat. Denn unterhalb liegen jetzt wieder Weinberge, soweit das Auge reicht. Die Bundesstraße ist zwischen Assmannshausen und Lorch schon seit ein paar Jahren gesperrt, die Straße, die hier ganz schmal eng am Fluss und neben der Bahntrasse verläuft, wird zum Ufer hin um einen Fuß-/Radweg ergänzt, da es lebensgefährlich war, auf der Straße mit dem Rad entlang zu fahren. Insbesondere zwischen Bodental und Assmannshausen gab es keine alternative Möglichkeit.
Vom gegenüberliegenden Rheinufer dringen laute Maschinengeräusche herüber. Dort frisst sich seit Jahrzehnten ein Steinbruch in den Berg hinein, immer höher hinauf und immer tiefer in den Berg. Große Bagger laden das Gestein auf riesige Muldenkipper, die es den Berg hinunter transportieren und dort verarbeiten. Der Steinbruch besteht bereits seit 1835, aber schon seit dem 17. Jahrhundert wird hier Quarzit gewonnen, habe ich gelesen. Er wurde in den 1960er Jahren von einem niederländischen Unternehmen übernommen, das bis dahin von den unterschiedlichen Betreibern beliefert wurde.
Das Loch im Berg wächst stetig, der Betrachter erschrickt regelrecht: wie passt eine derartige Mondlandschaft in dieses Stück Rheinromantik, das es auf die Liste der UNESCO-Weltkulturerbe geschafft hat?
Am Rande des Steinbruchs steht die Burg Sooneck wie ein Begrenzungspfeiler. Oberhalb rückt ein Aussichtsturm, der Siebenburgenblick, immer dichter an die Steinbruckkante heran. Auch ein Wanderweg verläuft darüber - noch. Fragt sich, wie lange noch.
Auf der rechten Rheinseite, auf der ich mich befinde, gehe ich unterdessen den Rheinsteig weiter nach Norden. Die Lorcher Werth, die langgestreckte Rheininsel, ist sichtbar. Rechts liegt Lorch, dahinter sieht man schon Lorchhausen. Linksseitig das kleine Niederheimbach mit den Burgen Hohneck und Fürstenberg. Lorch und Niederheimbach verbindet eine Autofähre.
Ich verlasse jetzt den Rheinsteig, der am Waldrand weiterläuft, und gehe runter ins Tal, um gleich am südlichen Ortsanfang in Lorch herauszukommen. Die beschilderte Abzweigung des Rheinsteigs führt erst später in den Ort hinein, das will ich mir heute sparen. Durch den Bächergrund, ein steiles Seitental, geht es runter, vorbei an den ersten Häusern von Lorch.
Mir fällt auf, dass ich schon lange keinen Zug mehr gehört und gesehen habe. An den Gleisen angekommen, steht hier in Güterzug, als würde er schon ewig hier stehen. Ich habe noch nicht nachgeschaut, wann die Züge laut Fahrplan fahren sollen, ich will sicherheitshalber schnell am Bahnhof sein, dann habe ich immer noch Zeit zum Recherchieren.
Als ich den Bahnhof erreiche, sehe ich einige Leute am Bahnsteig stehen und denke mir, dass bald der nächste Zug eintreffen wird. Da irre ich mich. Die Mienen der Wartenden sind ernst, wie es aussieht, warten einige schon recht lange. Die Anzeigtafeln zeigen Verspätungen an, die Banddurchsage meldet ebenfalls Verspätungen und warnt gleichzeitig vor durchfahrenden Zügen. Nur dass kein Zug durch den Bahnhof fährt.
Die Verspätungsmeldungen werden immer bizarrer, die Zahlen höher, jetzt werden auch Zugausfälle mitgeteilt. Es wird langsam dämmerig und immer kälter. Mir fehlt jetzt die wärmende Bewegung des Laufens, obwohl ich warme Kleidung trage, wird mir wirklich kalt. Noch hoffe ich, dass irgendwann ein Zug kommt. Die Auskünfte der Tafel und der Ansage sind alles andere als informativ, der Bahnhof selbst ist, wie bei der kaputtgesparten Bahn üblich, unbesetzt, da kann also auch niemand helfen.
Irgendwann schaue ich doch noch einmal auf meine Bahn-App. Ich hatte das vermieden, da meine Finger kalt und steif sind. Auf der App lese ich, dass tatsächlich heute kein Zug mehr rechtsrheinisch fahren wird, die Strecke ist ab Lahnstein bis Wiesbaden gesperrt. Ich gebe die Information an die anderen Wartenden weiter. Was zu tun ist, weiss niemand. Wir stehen hier auf einem Kleinstadtbahnhof, die Bahn fährt nicht, die Buslinie, keine Ahnung, welche Busse hier wohin fahren, ist ebenfalls blockiert, da die Straße nach Rüdesheim unpassierbar ist.
Ich entscheide mich, mit der Fähre auf die andere Rheinseite zu fahren, um von dort mit dem nächsten Zug über Mainz nach Wiesbaden zu gelangen. Bis 19 Uhr verkehrt die Fähre durchgehend, so dass ich nicht lange warten muss. Mit mir ist noch ein weiterer Gestrandeter, ebenfalls ein Wanderer, auf dem Weg nach drüben. Die Fähre kostet für den Fußgänger zwei Euro, die Überfahrt ist kurz, zum Glück, angesichts der Kälte, die auf dem Wasser noch deutlich strenger ist.
Drüben angekommen suchen wir uns den Weg zum Bahnhof. Ein Stück den Uferpfad entlang, dann durch eine unbeleuchtete Bahnunterführung und entlang der gehweglosen Bundesstraße. Der Bahnhof ist, wie zu erwarten war, absolut heruntergekommen. Ziel scheint es zu sein, die Menschen vom Benutzen abzuhalten. Auf einem maroden Bahnsteig finde ich einen halbverdeckten Abgang zu einer düsteren Unterführung, die uns auf den zweiten Bahnsteig führt. Laut Beschilderung halten hier die Züge Richtung Koblenz bzw. Bingen.
Was fehlt, ist ein Zug. Auch hier auf der Hinweistafel absurde Verspätungsmeldungen und keine verlässliche Information. Die Bahn-App behauptet, es käme noch ein Zug. Also heißt es warten, denn was wäre die Alternative? Mit dem Taxi müsste ich mindestens bis Mainz fahren, das wird ein Vermögen kosten. Hier übernachten? Das fehlt noch. Nach und nach kommen noch andere Reisende, auch zwei Frauen, die schon gegenüber in Lorch gewartet haben.
Ich habe fünf Aufnahmegeräte mit mir geführt, eine Spiegelreflexkamera, eine Actioncam, eine Kompaktkamera, mein iphone X sowie als Backup mein iphone 8. Da ich das iphone X zum Telefonieren, Recherchieren, Lesen, aber auch für die Fahrkarte über die App benötige, habe ich es kaum für Fotos und Videoaufnahmen genutzt. Trotzdem ist der Akku fast leer, der des iphone 8 sowieso. Was mache ich, wenn das Akku vollständig leer ist?
Immer wieder rauschen mit recht hoher Geschwindigkeit in beide Richtungen Güterzüge vorbei. Das ist geradezu unheimlich. Dunkle Züge tauchen in der Dunkelheit auf dem Nichts auf, sie sind wahnsinnig laut und erzeugen einen eiskalten Luftstrom, der den Aufenthalt noch unterträglicher macht.
Ein Personenzug naht von Norden. Er fährt vorbei, er hält nicht. Es ist ein Nahverkehrszug nach Bad Kreuznach. Doch irgendwann, niemand hat mehr so recht daran geglaubt, kommt noch ein kleiner Personenzug und hält am Bahnsteig. Die Regionalbahn nach Mainz. Zum Glück ist er nicht überfüllt, es sind noch reichlich freie Plätze vorhanden, und warm ist es auch. Ich kann also langsam wieder auftauen.
Der Zug fährt, hält in Bingerbrück, euphemistisch Bingen-Hauptbahnhof tituliert. Auch bei der Bahn passt das Marketing nicht zur Unternehmensrealität. Da der Zug außerhalb der geplanten Zeitfenster auf der Strecke herumgurkt, muss er ständig warten, um die schnellen ICE durchzulassen. Ist aber jetzt auch egal, hauptsache es geht weiter. Das tut es auch, und irgendwann bin ich in Mainz und muss jetzt noch weitere zwanzig Minuten warten, bis der Shuttle nach Wiesbaden abfährt. Dafür düst dieser Schienenersatzverkehrsomnibus ohne Zwischenhalt über die Autobahn und die Schiersteiner Brücke zum Wiesbadener Hauptbahnhof. Ich hatte schon nicht mehr dran glauben wollen, aber ich bin zuhause.
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