Der Samstag beginnt mit vollkommen blauem Himmel. In der Nacht war es sehr kalt gewesen, die Heizung lassen wir nach Möglichkeit nicht durchlaufen. Ich hatte die Zeitschaltuhr der Trumaheizung auf 6:15 Uhr gestellt, so dass ich gegen viertel vor sieben im ausreichend erwärmten Innenraum den Kaffee kochen kann. Der Gang zum Waschhaus ist ein bisschen lästig, aber morgens in der Früh und besonders jetzt im Winter ist er leer, die Toiletten und Duschen sind sauber, das Wasser heiß. Wenn wir schon auf einem ausgestatteten Campingplatz sind, ist es sinnvoll, dessen Infrastruktur auch zu nutzen.
Heute wollen wir mit dem Rad nach Veere fahren. Veere ist ein besonders schönes Hafenstädtchen, das an einem ins Landesinnere reichenden Meeresarm an der Ostküste der Insel Walcheren liegt, dem Veerse Meer. Die Entfernung mit dem Rad über eine landschaftlich schöne Strecke entlang der Küstenlinie beträgt knappe 20 Kilometer.
Zunächst geht es durch Domburg durch. Die Hauptstraße - je nach Abschnitt Weststraat, Markt und Ooststraat - ist nach wie vor für den Autoverkehr zugelassen, wenn auch als Einbahnstraße in Ost-West-Richtung. Angesichts der Menschenmassen, die sich hier an vielen Tagen durchschieben, wäre eine Verkehrsberuhigung meines Erachtens angesagt, vor allem, da es die Zentrumsumgehung über die südlich verlaufende Nationalstraße schon lange gibt und sie für die Gegenrichtung auch genutzt wird.
So hocken die Autofahrer:innen gut geschützt in ihren Fahrzeugen, während Fußgängergruppen kaum auf den schmalen Gehwegen Platz haben und Radfahrende sich auf den schmalen markierten Streifen zwischen Autos und Fußgängern hindurchschlängeln.
Die meisten Läden haben schon geöffnet, die ersten Wochenendgäste gehen schon ihren Touristenverpflichtungen nach. Wir fahren geradeaus weiter stadtauswärts über den Domburgseweg Richtung Oostkapelle. Der Radweg verläuft jetzt baulich abgetrennt parallel zur Straße, die hier, wie überall, den Autos gehört. Kurz bevor die Straße vor dem Kasteel Westhove nach rechts abknickt, biegt der Radweg links in den Wald ab.
Jetzt sind wir schon im Manteling, dem Waldgürtel südlich des Dünenwalls zwischen Domburg und Vrouwenpolder. Dieser alte und schöne verwunschene Wald mit seinen knorrigen Bäumen ist nicht nur in den warmen Sommertagen, an denen es hier wahrlich nicht mangelt, ein willkommener Schattenspender, er ist auch eine natürliche Sicherung der Dünen, die das Land vor der Nordsee schützen. Gegen das Meer kämpfen die Niederländer schon seit Jahrhunderten und behaupten bis heute erfolgreich ihre Scholle. Der Kampf wird jedoch immer schwerer, rechnet man doch wegen der Klimaerwärmung mit einem Anstieg des Meeresspiegels von 20 bis 100 Zentimetern bis zum Ende dieses Jahrhunderts.
Zwischen Domburg und Westkapelle ist die Küste mit einem Deich befestigt, der an seiner Spitze über mehrere Kilometer seeseitig aus Steinen und einer Teerschicht besteht. Erst ab Westkapelle verläuft hinter der Hochdüne bis runter nach Vlissingen wieder ein Waldstreifen. Die Dünen bei Zoutelande sind bis zu 54 Meter hoch und gehören damit zu den höchsten der Niederlande.
Das Kasteel Westhove hat eine wechselvolle Geschichte und beherbergt heute ein Hostel. Die befestigten Anlagen hier auf Walcheren, von denen es einige gab, wurden ursprünglich zum Schutz gegen die marodierenden Wikinger angelegt.
Ich dachte immer, sich gegen mordlustige rücksichtslose Eroberer schützen zu müssen, gehört zu einer fernen Vergangenheit. Aktuell muss die Welt erleben, dass sich tausend Jahre später nichts geändert hat. Nur dass Festungen heute keine Sicherheit mehr geben.
Der Radweg verläuft auf eigener Trasse durch den Wald. Es ist Winter, die Bäume sind kahl, so dass die Sonne durchscheinen kann und der Blick auf die Dünenlandschaft links von uns frei ist. Der Wald besteht aus vielen knorrigen Eichen, aus Buchen und Linden. Immer wieder kreuzen wir Wege, die über die Düne führen und Zugang zum Strand erlauben. Das Gelände dazwischen ist geschützt. Der Weg verläuft in leichten Kurven und sanften Steigungen und Gefällen, er lässt sich sehr gut fahren. Es sind nur wenige Radfahrer:innen unterwegs, ein paar Jogger und verirrte Fußgängerinnen.
Nach drei Kilometern haben wir den Ortsrand von Oostkapelle erreicht, hier führt eine Stichstraße zu einem großen Parkplatz, von dem aus es zu Fuß zum Strandeingang geht. An der Kreuzung der Straße mit dem Rad- und einigen Fußwegen warten eine Frituur und ein Fischimbiss auf Gäste, die nicht nur sonnenhungrig sind. Da gehören wir nicht zu, wir folgen dem Radweg weiter.
Entlang einer schon etwas älteren Ferienhaussiedlung geht es in nördlicher Richtung parallel zum Strand weiter. Der Radweg mündet auf eine breitere Teerstraße, später rüttelt uns Kopfsteinpflaster ordentlich durch. Aus dem Vroonweg wird der Konigin-Emmaweg. Der Weg hat sich unbemerkt vom Meer entfernt und verlässt jetzt den Wald. Wir sind in einem Gebiet landwirtschaftlich genutzter Felder, linker Hand liegt auch ein Bauernhof.
Der Weg endet an einer Straße, die er nach hundert Metern wieder verlässt. Die Radstrecke folgt dem Abzweig in das Oranjezon-Gebiet. Links ein Restaurant, rechts ein großer Parkplatz, dahinter ein Campingplatz, der mit den Jahren immer gigantischer wird. In den 1990er Jahren hatte ich hier einmal mein Zelt aufgestellt.
Hinter dem Gewimmel liegt wieder der Manteling. Das Besondere hier ist das Natuurgebied Oranjezon, ein wunderschönes großes Naturschutzgebiet mit Wald, Wasserläufen, Grasland, Fischen, Vögeln und anderem Getier. Der Zutritt ist kostenpflichtig, lohnt sich aber in jedem Fall und zu jeder Jahreszeit.
Kostenfrei ist der Fußweg, der schnurgerade durch das Gebiet zum Strand verläuft. Am Strand steht ein Pavillon, der früher auch Oranjezon hieß, jetzt aber nichtssagend unter Aloha Beach firmiert. Wir bleiben heute auf dem Radweg, denn wir wollen ja nach Veere.
Also weiter und durch die offene Landschaft. Der Weg nach links über den Vroondijk hinter dem Breezand-Bungalowpark ist wegen Bauarbeiten gesperrt, also fahren wir geradeaus und kommen direkt in das kleine Dorf Vrouwenpolder. Wir queren den Ort und passieren durch einen Rad- und Fußgängertunnel die N57, die über den Versegatdam nach Rotterdam führt.
Der Radweg verläuft jetzt ein gutes Stück tiefer als die über einen Deich geführte Straße. Links sehen wir schon das Verse Meer, den durch den Versegatdam von der offenen Nordsee abgetrennten Meeresarm. Nach der Ramp, der großen und fürchterlichen Sturmflut im Jahr 1953 haben die Niederlande mit dem Deltaprojekt gewaltige Anstrengungen unternommen, das niedrige Land besser vor dem Meer zu schützen. Der Versegatdam ist eines der ersten Bauwerke und schließt seit 1961 das Meer ab. Diese Lösung hat sich ökologisch als problematisch erwiesen, so dass in der Folge Sperren konzipiert und umgesetzt wurden, die den natürlichen Lauf des Wassers und des Lebens im und mit dem Wasser nicht verändern, sondern nur im Fall einer Sturmflut zum Einsatz kommen.
Dazu gehört die in den 1980er Jahren errichtete Oosterscheldekering, ein riesiges Sperrwerk über die Oosterschelde zwischen den Inseln Schouwen-Duiveland und Noord-Beveland, nur wenige Kilometer vom Versegatdam entfernt. Die Tore des Sperrwerks sind im Normalfall geöffnet, so dass das Wasser in die Schelde hinein- und wieder aufs Meer hinausfließen kann. Erst wenn eine gefährliche Sturmflut droht, werden die riesigen Tore abgesenkt und das Wasser aufgehalten.
Die Anlage wird von 65 Pfeilern getragen. Um diese zu errichten, wurde die künstliche Insel Neeltje Jans angelegt, dort auf einem Niveau unterhalb des Wasserspiegels die Pfeiler gegossen und anschließend mit gigantischen Schiffskränen, die ebenfalls eigens dafür konstruiert worden waren, an ihre Positionen transportiert und abgesenkt. Da das Sperrwerk zwar das Wasser, aber nichts größeres durchlässt, wird der Schiffsverkehr über eine Schleuse geleitet.
Die Insel Neeltje Jans ist heute Naturschutzgebiet, eine riesige Halle, die für den Bau des Sperrwerks errichtet wurde, dient als Ausstellungsgebäude und ist Teil des Informationszentrums über den Deltaplan.
Auf einer Wiese hat sich eine große Gruppe Wildgänse versammelt. Sie ziehen sich dezent zurück, als wir näherkommen, die Aufpasser schauen unauffällig, aber beständig in unsere Richtung. Wir wollen nicht stören und fahren weiter.
Ein paar Kurven und ein kleines Wäldchen später liegt links von uns ein kleiner Teich, dahinter ragen eine Windmühle und ein Kirchturm hervor. Wir sind kurz vor Veere. Die Windmühle trägt den Namen De Koe - die Kuh. Wir passieren die Kuh und fahren über ein Nebensträßchen zum Jachthafen von Veere, wo wir die Räder abstellen. Jenseits des Hafenbeckens sehen wir die Renaissancegiebel der prachtvollen Häuser von Veere.
Wären nicht die omnipräsenten Autos und die moderne Kleidung der vielen Menschen, fühlte man sich um ein paar Jahrhunderte zurück versetzt. Die kleine Hafenstadt hatte einst enge Verbindung mit Großbritannien, insbesondere mit Schottland. So war im 15. Jahrhundert ein Stadtherr mit der Tochter des schottischen Königs verheiratet. Die eindrucksvollen Häuser werden auch Schottenhäuser genannt. Im spanisch-niederländischen Krieg mischten die Bürger von Veere ordentlich mit, der Hafen diente als Kriegshafen.
Als Napoleon Europa auf den Kopf stellte, unterbanden die französischen Truppen den Schiffsverkehr mit Großbritannien. Bei den Auseinandersetzungen wurde die riesige Kirche beschädigt und später von den Franzosen als Lazarett benutzt. Danach wurde Veere zum Fischereihafen, bis der Versegatdam den Zugang zum Meer einschränkte (der Zugang ist nach wie vor, aber mit einem riesigen Umweg um Noord-Beveland herum, vorhanden) und der Fischereibetrieb nach Colijnsplaat umzog.
Veere ist klein - nein, das ist mißverständlich. Veere bezeichnet die kleine Hafenstadt mit 1.600 Einwohnern, aber auch die Gemeinde auf Walcheren mit 20.000 Einwohnern, die alle Orte außer den Städten Middleburg und Vlissingen umfasst. Also Domburg, Oost- und Westkapelle, Zoutelande, Vrouwenpolder und die kleinen auf -kerke endenden Binnendörfer bilden zusammen die Gemeinde Veere.
Aber dieses Veere, das wir gerade besuchen, ist die kleine alte Hafenstadt. Der touristisch interessante Teil umfasst den Kaai am Hafen entlang bis um die Spitze herum, den Markt, Oude- und Kapellenstraat. Auch hier warten Souvenirläden, einige Boutiquen und Lokale auf die Gäste. Am Markt das Stadthaus mit dem hohen Glockenturm und seinen Glockenspielen zur vollen Stunde. Gegenüber bei Suster Anna trinken wir einen Cappucino in der Sonne, schauen den anderen Gästen beim Essen zu, schnappen Gesprächsfetzen auf, bevor wir durch einige Läden pilgern, wie wir es eigentlich immer tun, wenn wir in Veere sind. Dieses Mal finden wir robuste, aber ästhetische Weingläser für dem Camper.
Nach der erschöpfenden Shoppingrunde lassen wir uns in einem anderen Lokal nieder. Jetzt ist Zeit für einen Pfannkuchen, dazu ein kleines Bier. Oh Graus - der Pfannkuchen wird auf einem Pappteller mit Einwegbesteck, das Bier in einem Plastikbecher gereicht! Und das im Jahr 2022! Das Lokal hat wohl einen anderen Betreiber als bei unserem letzten Besuch. Der Pannekoeken ist makelos, aber das Setting geht ja gar nicht.
Die groote Kerk ist geschlossen, wie so häufig. Wir haben es vor Jahren einmal geschafft, sie geöffnet anzutreffen und sind dann auf den Turm geklettert. Von dort hat man einen phantastischen Rundblick über Zeeland. Heute nicht, aber das parkartige Gelände um die Kirche herum ist sehr schön, ebenso sind es die ruhigen Wohnstraßen hinter der Kirche.
Wir beenden den Besuch in Veere und fahren zurück. Dabei nehmen wir dieselbe Strecke wie auf dem Hinweg, denn sie ist landschaftlich einfach die schönere gegenüber den Alternativen quer durchs Inselinnere.
Zurück in Domburg gehen wir erst einmal an den Strand, das Wetter ist zu schön. Wir wollen in einem der Pavillons einen Kaffee trinken. In einem der Pavillons? Der Stenen Toko wird gerade neu gebaut, in der Oase kann man nicht draußen sitzen, gehen wir zu dem unterhalb des Watertoren. Da sitzen etliche Leute draußen, das können wir aus der Ferne sehen. Jedoch näherkommend sehen wir, dass sich vor dem Eingang eine Schlange gebildet hat, die auf Einlass wartet. Wochenende, Sonne - die Kapazitäten sind erschöpft. Lassen wir es also.
Statt dessen fahren wir wieder zum Albert Heijn-Supermarkt und kaufen noch ein paar Kleinigkeiten. Heute Abend wird es einen kleinen Imbiss im Camper geben, und da uns der Apfelkuchen, den wir gestern mit zu unseren Freunden Reimund und Susanne genommen hatten, so gut schmeckte, kaufen wir einfach einen neuen. Im Wohnmobil kochen wir daher erst einmal einen Kaffee und gönnen uns ein Stück Appelgebak.
Der Sonnenuntergang naht. Heute wollen wir ihn vom Leuchtturm am Autostrand Richtung Westkapelle aus ansehen. Wir sind schnell vor Ort und schauen der immer roter werdenden Sonne beim ins Meer Hineinfallen zu. Das ist immer wieder ein Ereignis. Wir sind nicht jeden Tag am Meer, schon gar nicht mit Blick nach Westen auf das Wasser, eigentlich sind wir so gut wie nie dort, und es ist auch nicht jeder Tag wolkenlos. Also überlegen wir nicht lange, sondern sehen uns selbstverständlich auch zum zweiten Mal den Sonnenuntergang an.
Auch heute wird es sofort danach wieder sehr kalt und wir beeilen uns, ins warme Auto zu kommen. Morgen geht es weiter. Wir freuen uns.
Das Video zu Tag 2 unserer Tour:
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